Die Zukunft hat viele Gesichter, das liegt in der Natur der Sache. Sicher sein, wie die Zukunft sein wird, können wir erst, wenn sie für uns längst Gegenwart geworden ist. Trotzdem, oder gerade deshalb, denkt die Menschheit immer wieder darüber nach, wie die Zukunft aussehen könnte. Verschiedenste Szenarien treten dabei in unterschiedlicher Art und Weise in Erscheinung: Umweltzerstörung und Erdflucht beim Film „Wall-E" [1], Androiden bei dem Spiel „Detroit: Become Human“[2], eine hochkommerzialisierte und digital-dystopische Welt als Roman und Comic bei „Qualityland“ [3] und auch als Roman bei Margaret Atwoods MaddAddam Trilogie, beginnend mit dem Roman „Oryx und Crake“. Alle diese Ausdrucksformen lassen Rezipierende eintauchen in denkbare zukünftige Welten. Zugegeben, im Science Fiction Kontext steht dabei oft der Unterhaltungsfaktor im Vordergrund. Gleichzeitig ermöglicht es eine Auseinandersetzung mit der Thematik.
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Spekulation als Designansatz
Nur warum sollte diese Art der Interaktion mit „der Zukunft“ bei Literatur oder Filmen enden? Das Design könnte seinen eigenen Beitrag leisten und mit seinen Gestaltungsdingen die Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes „begreifbar“ machen. Eine frühe These Anthony Dunnes und Fiona Rabys lautet deshalb: Design muss nicht nur im Heute praktische Lösungen liefern, die sich gut verkaufen lassen. Es kann genauso gut hypothetische, konzeptuelle Produkte entwerfen, deren Idee im Zentrum steht und nicht der praktische Nutzen oder die Anwendbarkeit. Es müsse auch darum gehen, Rezipierende dazu zu bringen, sich Zukünfte oder alternative Gegenwarten vorzustellen und darüber zu reflektieren. Der kritische Umgang steht für Dunne und Raby folglich dabei im Mittelpunkt:
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“Let’s call it critical design, that questions the cultural, social and ethical implications of emerging technologies. A form of design that can help us to define the most desirable futures, and avoid the least desirable.” (Dunne and Raby) [4]
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Ist die Aufmerksamkeit für ein Zukunftsthema geweckt, kann es gesellschaftlich debattiert werden, und so dazu beitragen, dass bestimmte potentiell-negative Konsequenzen erkannt und verhindert werden. Wichtige Merkmale der spekulativen Designarbeit bestehen laut Dunne und Raby ebenfalls bei deren Experimentierfreudigkeit, Transdisziplinarität und Forschungsorientiertheit. Letzteres bezieht sich nicht nur auf die Gestaltung von Produkten auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu möglichen Zukünften, Materialien und Technologien. Spekulative Designer*innen und Künstler*innen können mit Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten, um wissenschaftliche Grundlagen verstehen und anwenden zu lernen, bevor sie ein Designobjekt erschaffen [5]. Forschung könnte allerdings auch in die umgekehrte Richtung betrieben werden mithilfe des spekulativen Designs, im Sinne der Wissensgenerierung [6].
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Spekulieren im Kontext Gentechnik
Hier lohnt ein Blick auf die „Zukunftsthemen“ Gentechnik und -modifikation von Menschen („rote Gentechnik“) bzw. Tieren und Pflanzen („grüne Gentechnik“). In medialen Diskursen kommen diese spätestens seit Ende der 1980er Jahre am Beispiel von Designerbabys und Genmais zum Vorschein. Grundtenor ist dabei meist, dass es aus ökologischen, gesundheitlichen und ethischen Gründen nicht in Ordnung ist, so mit der biologischen Grundlage unserer und anderer Spezies zu „spielen“. Eine Umfrage von 2015 zeigt, dass 45% der Deutschen glauben, dass der Anbau von Gentechnik-Pflanzen der Natur und der biologischen Vielfalt „stark“ schade, weitere 31 % meinen, dies schade zumindest „etwas“ [7]. Man könnte also meinen, dass eine Zukunft mit starker Nutzung von Gentechnik aus deutscher Perspektive eher abwegig ist.
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In anderen Ländern Europas, vor allem aber in den USA und einigen Schwellen- und Entwicklungsländern, sieht das Stimmungsbild jedoch ganz anders aus. Besonders die „grüne Gentechnik“ schreitet dort immer weiter voran. Transgene Pflanzen [8] können zum Beispiel resistenter gegen bestimmte Schadorganismen oder Umwelteinflüsse sein, einen höheren Ertrag erreichen oder generell verbesserte Produkteigenschaften aufweisen. So könnten Hungerkatastrophen und Armut gemildert oder verhindert werden.
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Außerdem ist ein Ziel, Medikamente oder Spenderorgane über gentechnisch veränderte tierische „Wirte“ zu beziehen. Zum Beispiel kann seit 2008 über transgene Ziegen menschliches Antithrombin produziert werden, welches gerinnungshemmend wirkt und somit Blutgerinnseln in den Blutgefäßen vorbeugt. [9]
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Ähnliche positiv wahrgenommene Auswirkungen von Gentechnik-Nutzung könnten das Bild der „grünen Gentechnik“ langfristig verändern. Branchenverbände hoffen darauf seit Jahren. Die aus ethischen Gründen oft grundsätzlich abgelehnte Technologie könnte über die Nachfrage am Markt und den Forschungsdruck nach lebensrettenden Medikamenten zu etwas Normalem werden. Die Rolle des Spekulativen Designs könnte darin bestehen, eine derartige neue Normalität bereits heute zu erleben und uns selbst als echte Konsument*innen und Nutzer*innen darin zu imaginieren - einschließlich damit verbundener kritischer Fragen, beispielsweise nach den persönlichen Ansprüchen an die Gentechnik und eigene Schmerzgrenzen:
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„[...]Ein-Tier-Erschaffen war Spaß, sagten die, die es machten; man kam sich vor wie Gott. Mehrere Ergebnisse mussten vernichtet werden, weil sie allzu gefährliche Zeitgenossen waren – wer brauchte eine Kröte mit einem Greifschwanz wie ein Chamäleon […]? Oder die Schlatte, eine unglückliche Kreuzung von Schlange und Ratte: auch die musste man wieder loswerden.“ (Atwood 2014, 52) [10]
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Methoden des Spekulierens
Die Konsequenzen, die entstehen, wenn diese Tierexperimente nicht mehr rückgängig gemacht werden können, werden in den Romanen ausführlich behandelt. Ein wichtiges Mittel dabei ist die Methode der „Fictional Worlds“, die auch als „Worldbuilding“ bezeichnet wird. Sie und ihr Produkt – eine durchdachte, glaubhafte und immersive „Fantasiewelt“- ist der Kleber, der jeden spekulativen Roman, Film oder Spiel zusammenhält. Im Roman „Oryx und Crake“ gibt es zum Beispiel Szenen, in denen der Hauptcharakter Jimmy durch die Ödnis streift und hinter jedem raschelnden Busch eine Horde gefährlicher Hunölfe [11], Organschweine [12] oder Löwämmer [13] wittert. Seine beschriebenen Gefühle, seine Reaktionen und Verhaltensweisen vermitteln der Leser*innenschaft die Gefahren der GMOs [14] der Zukunft, während Hintergrundinformationen die Entstehung dieser seltsamen Tiere plausibel erscheinen lassen und Rezipient*innen in den Bann der fiktionalen Welt gezogen werden.
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Auch – und gerade – im Design kommt die „Fictional Worlds“ Methode zur Anwendung, allerdings müssen dabei die impliziten Hintergrundinformationen zukünftiger Gesellschaften in einem Designobjekt zum Ausdruck gebracht werden. Visuelle Aspekte, wie zum Beispiel eine neuartige Architektur oder bestimmte Produkte sind dabei z.B. im Game Design für die Immersion von großer Wichtigkeit, während laut Dunne und Raby auch Aspekte wie Gesetze, Moral, Politik und Glauben für ein spekulatives Design von Bedeutung sind.
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Eine weitere Methode, die im Speculative Design zum Tragen kommt, ist das „Thought Experiment“. Ausgehend von einer hypothetischen Situation werden Konsequenzen dieser in Ideen gegossen und erhalten mithilfe von Design eine Form. Hier entstehen nicht zwangsläufig zusammenhängende, stichfeste fiktionale Welten, sondern mitunter nur Ausschnitte. Beim „Counterfactual Thought Experiment“ [15] beschäftigen sich Spekulative Designer*innen und Künstler*innen auch mit bereits vergangenen Situationen und setzen sich mit deren alternativen möglichen Auswirkungen auf das Heute auseinander.
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Ein Beispiel für ein in die Zukunft gewandtes Gedankenexperiment ist das Projekt „United Micro Kingdoms“ (UMK) von Dunne und Raby. Bei UMK hat sich das Vereinigte Königreich in vier selbstverwaltende Zonen aufgeteilt, die jeweils eigene Formen von Regierung, Wirtschaft und Lebensstil ausgeprägt haben. Eine dieser Zonen ist die der Anarcho-Evolutionisten. Sie passen sich lieber selbst an die Natur an als andersherum. Dies tun sie mit regulationsfreien Selbstexperimenten, Training und DIY-biohacking, einer Art Gentechologie der Marke Eigenbau. Dadurch übertreffen sie natürlich-menschliche Fähigkeiten und werden „posthuman“. Auch ihre Tiere werden modifiziert, um die an sie gestellten Anforderungen am besten erfüllen zu können. Der „Pitsky“, eine Mischung aus Pitbull und Husky, erinnert dabei sehr an die eigenwilligen Tierkombinationen à la Atwood. Im Unterschied zur Roman-Autorin Atwood allerdings können Dunne und Raby mit den Mitteln des Designs „begreifbare“ Modelle ihrer Ideen erstellen und – so wird zumindest argumentiert – sie dadurch unmittelbarer vermitteln.
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Eine dritte Methode, die Extrapolation, die nicht nur im spekulativen Gestaltungskontext Verwendung findet, entstammt ursprünglich der Mathematik. Dabei geht es um die „Vorhersage“ eines Verhaltens über den gesicherten Beweis hinaus. Es bedarf Informationen über ein bisheriges Verhalten, welche dann genutzt werden, um eine zukünftige Entwicklung bei Annahme von Regelmäßigkeiten zu prognostizieren. Das Spekulative Design nutzt diese Methode um Zukunftsszenarien für ihre Projekte zu generieren, kann dabei aber auch bewusst „unrealistische“ Entwicklungen extrapolieren.
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Schlussfolgerung
Letztendlich ist Speculative Design für das Design, was Science Fiction für die Literatur ist. Die Gemeinsamkeiten sind stark, wenn auch Umsetzung und Endprodukt sich unterscheiden. Im Falle der MaddAddam-Trilogie beschreiben Dunne und Raby dies folgendermaßen:
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„“Oryx & Crake“ is very close to how a speculative design project might be constructed. All her inventions are based on actual research that she then extrapolates into imaginary but not too far-fetched commercial products. [...] For us, she is the gold standard for speculative work [...].“ (Dunne & Raby 2013, 78) [16] [17]
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Egal also, was nach dem Spekulieren als Produkt im Raum steht, es ist das Ergebnis einer (mitunter wissenschaftlichen) Auseinandersetzung mit möglichen Zukünften, die uns anregt über wünschenswertere Alternativen nachzudenken und für deren Zustandekommen vielleicht selbst aktiv zu werden.
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Wie auch der Literatur, so sind auch dem Spekulativen Design dabei Grenzen gesetzt. Die Literatur schließt diejenigen aus, die eine bestimmte Sprache, dieses bestimmte Werk oder generell nicht lesen können. Spekulative Design-Objekte verharren, etwa durch museale Kuration oder andere Formen der Nicht-Realisierung, allzu oft im Dunstspektrum kleiner „erlesener“ Kreise. Auch die unscharfe Trennlinie zur Kunst und die wenig praktischen Objekte könnten bei Laien eher Befremdlichkeit und Distanz, anstelle von Immersion und gedanklichem Austausch provozieren.
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Gleichwohl: Am Beispiel der Gentechnik wird deutlich, wie Speculative Design uns in Kontakt mit Ideen bringt, die ansonsten schnell abgeblockt werden, und kann so tendenziell dazu beitragen, sich tiefer mit der Thematik befassen zu wollen. Speculative Design zeigt auch, dass wir als Designer*innen nicht nur den aktuellen Bedürfnissen eines ominösen Marktes folgen müssen, sondern auch eigene Wege gehen, für andere Realitäten arbeiten und Kritik äußern können. Über die Zukunft nachzudenken ist also nicht nur etwas für Futurolog*innen und Trendforscher*innen, sondern auch ein legitimer Teilbereich des Designs.
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Ida Welsch
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[5] https://www.sueddeutsche.de/wissen/speculative-design-vom-organoid-zum-objekt-1.4087357 [21.06.2021]
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[7] https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783845293790-158/gentechnik-als-symbol-zur-risikowahrnehmung-der-gruenen-gentechnik [07.07.2021]
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[9] https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Antithrombin-aus-der-Milch-transgener-Ziegen-354183.html) [07.07.2021]
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[10] Atwood, Margaret: Oryx und Crake (2. Auflage), Berlin Verlag Taschenbuch, 2014 – Erstveröffentlichung 2003
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[12] genetisch modifizierte Schweine, ursprünglich zur Herstellung von Spenderorganen wie Leber, Haut und Gehirn; sehr schlau
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[16] Dunne, Anthony/ Raby, Fiona (2013): Speculative Everything. Design, Fiction, and social Dreaming (1. Auflage), The MIT Press, Cambridge Massachusetts/London, England 2013
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[17] Nicht umsonst nennt Margaret Atwood ihre MaddAddam-Trilogie ein Werk von Speculative Literature in bewusster Abgrenzung zur Science Fiction
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- Der Gastbeitrag von Ida Welsch basiert auf einer im Seminar "Designwissenschaft" (Leitung: Dr. Tom Bieling, Sommersemester 2021, HAWK Hildesheim) entstandenen Arbeit.