Speclog

16.06.23

Magie und Gestalt – Fassungsvermögen des Un/Wirklichen

Gut möglich, dass wir in unseren Forschungswelten mitunter Teilbereiche durchstreifen, die im (natur-) wissenschaftlichen Sinne nicht rational erklärbar zu sein scheinen. Ebenso gut möglich, dass wir dabei mit Fragestellungen konfrontiert werden, die in der Wissenschaft nicht gestellt, geschweige denn sich von ihr beantworten lassen. Möglicherweise findet sich genau hier ein Anknüpfungspunkt für das Spekulative Design, unter Umständen ja sogar auch für eine damit in Verbindung stehende Designforschung. Denn beide Ansätze verfügen über das grundsätzliche Potenzial, Unbegreifliches begreifbar und (noch) Nicht-Existentes erfahrbar zu machen. Und im gleichen Zuge vermögen sie bisweilen mit Tricks und Kniffen der Magie zu hantieren. Etwa solchen der Suggestion oder etwas boshafter formuliert: der (un/bewussten) Irreführung, im Flusser’schen Sinne: des Fallenstellens. Etwas milder ausgedrückt: Mit Mitteln der Simulation, der Abstraktion. Kurzum: der Artikulation. +
„Credulity, Superstition and Fanaticism“, William Hogarth 1762 / revisited Tom Bieling 2021
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Design und auch Forschung greifen auf eine Vielzahl an Techniken zurück. Etwa die der Sprache, der Visualisierung oder Materialisierung. Womöglich lässt sich ein Stück weit davon ja auch die Kategorie der von Arnold Gehlen als „magische Techniken“ bezeichnete Welt der Rituale und Kulte übertragen (u. a. Trance, Bewusstseinsveränderung, meditative Zustände, Transzendenz), die vielleicht wenig evidenzbasiert daherkommen mögen, als kulturelle oder soziale Phänomene jedoch nicht von der Hand zu weisen sind. Und als solche haben sie ganz massiv mit Gestaltung zu tun. Beispiele finden sich auch in Religion oder kultartigen Bündnissen. Hier vermittelt sich das Sakrale, Transzendente häufig – symbolisch oder unmittelbar – über Artefakte. Denken wir beispielsweise an Kirchen, Moscheen, Synagogen, Altare, Glocken, die Lautsprecher des Muezzin, Kirchenbänke, Beichtstühle, Kerzen, Chanukkaleuchter, etc. Gleiches gilt für dinglich vermittelte Rituale, mit Räumen verbundene Erfahrungswelten (Raum-Akustik, Weihrauch oder durch Kirchenfenster und architektonische Anordnung transferierte Lichtstimmung) etc. +
Ein nicht weiter verifiziertes Zitat hierzu: „Techniken der Magie […] dienen der […] Bewusstwerdung unbewusster Strukturen […]. Dadurch soll die Realität nach dem eigenen Willen gestaltet werden.“ (Praktiken der Magie). Mithin zeigt sich das Moment des Magischen hier als – und sei es in Form einer lediglich suggestiven – Transformation. Die Schaffung von Veränderung in der realen Welt. +

Transformation und Materie

Auch in den Künsten finden sich Aspekte des Magischen. Die Transformation, die sich beim Entstehungsprozess von Kunst vollzieht, beschreibt Nadia Davidson (2019) in ihrem Essay „Art as Magic“ als Metamorphose von chemischen Elementen (Farbe, Pigment, Wachs, Öl etc.) in Kombination mit verborgenen (okkulten, übersinnlichen) Ideen, die sich im Kopf des/r Künstler*in bilden, die schließlich durch einen Prozess gestalterischer Techniken (Rituale oder Formeln) – im Prozess des Auftragens des Mediums auf die Oberfläche – im Werk zum Ausdruck kommen. In dieser Kombination aus werkzeuglicher Zuhandenheit, materieller Beschaffenheit, Erfahrungswissen und – in dem Falle: künstlerischem – Schaffungsvermögen, zeigt sich eine Metamorphose, die – schwer verortbar – irgendwo im Entstehungsprozess vonstattengeht. +
Der Trennverlauf zwischen Ding und Medium (Heider 1921) scheint dabei fließend: „Wir erkennen auf irgendeine Weise unsere Umwelt. Nicht alles, was uns umgibt, ist aber für dieses Erkennen gleichwertig. Wir erkennen nicht nur Dinge […], sondern wir erkennen auch oft ein Ding durch etwas Anderes. Wir sehen […] durch den Äther ferne Sterne; wir hören durch die Luft den Ton einer Glocke; wir erkennen am Barometerstand die Höhe des Luftdrucks; wir erkennen an den Ausdrucksbewegungen Psychisches und sehen durch die Augen in die Seele des Menschen; wir erkennen aus Schriftzügen Gedanken usw.“. +
Hierbei gilt es zu unterscheiden zwischen Sensibilität, sinnlicher Präsenz und Empfindungscharakter (Holzkamp 1973). Der Mensch nimmt „wirkliche Dinge wahr, die außerhalb von ihm und unabhängig davon, ob sie gerade wahrgenommen werden, existieren. Falls jemand glaubt, etwas wahrzunehmen, das in Wirklichkeit nicht existiert, so handelt es sich tatsächlich nicht um eine Wahrnehmung, sondern um eine Einbildung, eine Halluzination etc.“ (ebd.) Im subjektiven Wahrnehmungsverlauf ist diese Unterscheidung gleichwohl nicht immer zwangsläufig fassbar. Denn „wahrgenommen werden […] nicht nur wirkliche Dinge, sondern potentiell auch wirkliche Beschaffenheiten der Dinge. Zwar enthält die Wahrnehmung immer auch die Möglichkeit der Täuschung, aber gerade in dem Umstand, dass ich mich wahrnehmend täuschen kann, ist zwingend mitgemeint, dass ich in der Wahrnehmung auch wirkliche Beschaffenheiten der Dinge treffen kann. Die Wahrnehmung hat also Erkenntnischarakter.“ +
Mit Blick auf den Schaffungs- und Perzeptionsprozess des Gestalterischen schlägt sich hier eine Brücke zu dem, was weithin als implizites, stilles, verkörpertes Wissen verhandelt wird (implicit, tacit, embodied knowledge). Jenen Wissens- und letztlich zugleich Handlungsfeldern, die zweifelsohne vorhanden, aber doch schwer verbalisierbar und formalisierbar sind und zu weiten Teilen intuitiv und erfahrungsgebunden sind.[1] +
Es finden sich hier gleich mehrere Bezugsebenen zur epistemischen Spekulation, ganz gleich ob mit, durch oder gänzlich ohne Gestaltungspraxis. Denn unweigerlich haben diese immer auch mit Erkenntniskonzepten zu tun, die an die (z. B. körperliche, implizite, explizite, handlungsbezogene) Erfahrung gekoppelt sind: ‚Intuition‘, ‚Expertise‘, ‚Reflective Practice‘ (Schön) und manchmal auch nur das gute alte ‚Bauchgefühl‘ (welches zumeist ja in unmittelbaren Bezug einer vorherigen Prägung, Erfahrung, Vorwissen etc. steht). +
Eine magische, fiktionale, vielleicht fiktive Gestaltungspraxis entlarvt dabei den eigentlichen Charakter von Design: Man kann nur spekulieren, indem man sich der Wahrheit entzieht (vgl. Bremner 2021, 235). Ein Paradoxon, das treffender nicht hätte beschrieben werden können als von Gerald Murnane (2014, 140): „Wanting to understand how the so-called actual and the so-called possible (what one did and what one only dreamt of doing) come finally to be indistinguishable in the sort of text that we call true fiction“. +
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Literatur

Bremner, Craig (2021): A Fictional Theory of Design[ing]. In: Paul A. Rodgers & Craig Bremner (Eds.): Theories of Designing. Vernon. +
Davidson, Nadia (2019): Art as Magic. Medium. +
Heider, Fritz (1921): Ding und Medium (1921). Kadmos. +
Klaus Holzkamp (1973): Zur Phänographie der Wahrnehmung als Erkenntnis. DVA. +
Murnane, Gerald (2014): A Million Windows. Giramondo, Sydney. +
Schon, Donald A. (1984): The Reflective Practicioner. Basic. +
  1. [1] Innerhalb der Soziologie ist der Begriff des impliziten Wissens zentral für die Praxeologie, die das Soziale als maßgeblich durch körperliche Praktiken – und damit auch stark durch implizites (Körper-)Wissen – gestaltet ansieht. (Wikipedia, April 2021)