In ihrem Buch "Vibrant Matter" (deutsch: Lebhafte Materie – Eine politische Ökologie der Dinge) stellt Jane Bennett traditionelle Beschreibungsversuche von Materie als passiv, inaktiv und träge in Frage. Materielle Substanz sei nicht leblos, sondern (wie überhaupt alles) mit allem lebendig verbunden. Objekte demnach als statisch, stabil und passiv, Menschen hingegen als die aktiven Subjekte einzuordnen, wäre demnach zu kurz gedacht und würde die Vitalität der Materie negieren. [1]
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In Folge 50 des Podcasts Future Histories weist Katharina Block auf einen Unterschied bei Latour und Haraway hin, der mir hier auch spannend erscheint: bei Latour sei alles mit allem verbunden, Haraway dagegen spezifiziert, dass alles mit etwas verbunden sei.
Eigentlich ist die ganze Folge "zu posthumanen Ordnungen und dem Denken jenseits des Subjekts" in diesem Kontext interessant:
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Die den Dingen zugesprochene Lebendigkeit bezieht sich dabei insbesondere auf die komplexen Wechselbeziehungen, die sich bei Bruno Latour in dem Begriff „Aktant“ (als Quelle einer Handlung im Netzwerk aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen) wiederfindet. [2]
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Die Lebendigkeit der Artefakte muss hierbei nicht im organischen Sinne verstanden werden, sondern drückt sich folglich in ihrer Wirksamkeit aus. Der grundsätzlichen Fähigkeit, Wirkungen zu erzeugen, Handlungen zu beeinflussen, den Lauf der Dinge zu verändern. [3] Wobei der Richtungsverlauf sich aus der jeweiligen Konstellation ergibt. Die Kraft der Dinge („Thing Power“) kann sich also als negative Kraft (Widerspenstigkeit der Dinge [4]) oder als positive, produktive Macht der Dinge darstellen.
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Dies verunmöglicht es uns jedoch auch – vielleicht gerade deswegen – sie systematisch zu verstehen. Bestenfalls haben wir anzuerkennen, dass wir in einer komplexen, aktiven Umwelt nicht die beherrschenden Subjekte sind. Immerfort werden wir von der Macht der Dinge beeinflusst. Wir sind folglich gar nicht so autonom und souverän, wie wir es gern hätten.
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Spekulation der Assemblage
Auch (und gerade) in der Forschung wie in der Gestaltung ist das Spekulative unweigerlich stets beides: dingbezogen und dinggetrieben. Auch Spekulation ist also Auswuchs jener energetischen Vitalität, die den Dingen innewohnt und die Dinge in ihrem Aufeinandertreffen mit uns und anderen Dingen aus ihrer vermeintlichen Trägheit erwachen lässt. Die epistemische Praxis des gestalterischen Spekulativen ist ihrerseits affektiv.
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Spätestens hier kommt der von Deleuze und Guattari ins Feld geführte Begriff der Assemblage ins Spiel (Deleuze/Guattari 1993). Geht man von solchen Assemblagen als Ad-hoc-Gruppierungen verschiedener Teilelemente aus, so beinhaltet dies auch, dass die Affekte der Assemblage stets ergebnisoffen bleiben. Sie sind mitnichten allgemeingültig, sondern immer auch orts-, zeit- oder kontextgebunden [5], zumal der Kern ihrer Handlungsverläufe schwer auszumachen ist („Agency of Assemblages“). [6]
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Die in den letzten Jahren auch in den designtheoretischen Diskursen zunehmende Auseinandersetzung mit dem Begriff „Agency“ – der in diesem Zusammenhang im Deutschen wohl am ehesten mit „Handlungsmacht“ übersetzt werden kann – hat nicht nur die Wirkungskraft von Subjekten, sondern insbesondere auch die von Dingen, kulturellen Artefakten, technischen oder entscheidungsprozessualen Strukturen im Blick. Für Teilbereiche der gestalterischen Disziplinen hat sich hierbei zusätzlich ein spezieller Fokus auf die Handlungsmacht von Werk- und Rohstoffen – der „Material Agency“ – herausgebildet. Materialien erzählen demnach nicht nur Geschichten und tragen maßgeblich zur Aussagekraft von Produkten bei, sondern ihnen wird eine „aktive Kraft im Entwurfsprozess“ beigemessen.[7] Eine ebensolche aktive Kraft muss auch im Spekulationsverfahren vermutet werden.
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Affektive Körper als spekulativer Wahrnehmungsstil
Der zweite philosophische Begriff, der hierbei zum Tragen kommt (neben ‚Assemblage‘), ist Spinozas Begriff der ‚Affective Bodies‘ (vgl. Bennett 2021, 21). Affektive Körper bedeutet, dass jeder Körper kontinuierlich auf andere Körper einwirkt und von ihnen beeinflusst wird. Die Macht eines Körpers, andere Körper zu affizieren, schließt die Fähigkeit ein, affiziert zu werden. Es gibt zwei gleichwertige Wirkungskräfte, die des Handelns und die des Erfahrens von Wirkung. Weil die Existenzweise des affektiven Körpers darin besteht, dass er sowohl affektiert als auch fähig ist, zu affizieren, bedeutet dies, dass er weder Subjekt noch Objekt ist, sondern vielmehr mit anderen affektiven Körpern in Beziehung tritt. Körper verstärken ihre Macht in oder als gemischte Assemblage. So schlägt Bennett vor, dass das Konzept der Handlungsfähigkeit nicht in menschlichen Körpern lokalisiert werden kann, sondern sich über das vielfältige Feld der Materie verteilt.[8]
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Das bedeutet nicht nur, dass etwaige Assemblagen durch Zufälle bestimmt werden, sondern setzt eine gewisse ‚antizipatorische Bereitschaft‘ (Anticipatory Readyness)[9] voraus, einen Wahrnehmungsstil [10], der offen ist für den Anschein von Ding-Macht (ebd.). Die körperliche Bedingtheit des menschlichen Aktionsspektrums kann dabei freilich nicht isoliert, sondern muss stets in Auseinandersetzung mit anderen Dingen, Körpern, Techniken und eben auch Materialien passieren. „Eine angemessene Wirklichkeitserfahrung des Menschen besteht [somit] immer aus beiden Welten, der körperlichen und der virtuellen“ (Scholz/Weltzien, 11). Letztlich ist genau dies, woraus Design als soziale Praxis erst einen Sinn erfährt: nämlich, dass es „über Wahrnehmbarkeit, also Material, einem Sachverhalt eine Bedeutung zuschreibt“. (ebd.)
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Die Beseeltheit spekulativer Objekte
Hier muss unterschieden werden, zwischen einer tatsächlichen, organischen Lebendigkeit der Dinge und dem, was Spinoza als Beseeltheit aller Dinge bezeichnet. Beseelte Dinge – das klingt zunächst wie ein Oxymoron. Seele und Ding, das will nicht recht zusammenpassen. Seele, das steht für Lebendiges, verweist auf den Bereich der Psyche, des Geistigen oder der Magie. Sie ist mit rationalen Mitteln nicht zu fassen, und schon gar nicht erst für die Wissenschaft greifbar. Dinge hingegen gelten als konkret, als haptisch und materiell. Im Gegensatz zum seelischen ist das Dinghafte greif- und somit auch begreifbar. Dass Dinge jedoch auch aktiv in unsere Handlungsprozesse eingreifen und dass vieles von dem, was wir glauben zu sein, mit der Welt des Gegenständlichen verknüpft ist, wird nicht erst seit Latours Akteur-Netzwerk-Theorie heiß diskutiert. In seiner entwicklungspsychologischen Forschung beschäftigte sich auch Jean Piaget etwa mit dem Thema „Animismus“ und der damit verbundenen Vorstellung einer „beseelten Dingwelt“. [11]
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Wann immer sich Forschung und Wissenschaft freilich mit dem Seelenbegriff auseinandersetzen, laufen sie stets auch Gefahr, schnell ins Esoterische abzudriften. Jedoch im zunehmenden Verlauf der technologischen Entwicklungen und gerade auch im Angesicht der fortschreitenden Digitalisierung gewinnt der Seelenbegriff in Bezug auf die Dingwelt wieder an Bedeutung (vgl. Dörrenbächer). Und sei es als Repräsentant des Unbeschreibbaren, des nicht Fassbaren, dem zugleich eine Handlungsfähigkeit inne zu wohnen scheint. Wie aber nun diesen beseelten Dingen auf den Grund gehen? Die Anatomen des 15. Jahrhunderts trennten auf der Suche nach dem sogenannten Seelenorgan leblose Menschenkörper auf, legten Organe frei und sezierten Gehirne. Jedoch vergeblich. Mit rein wissenschaftlichen Mitteln ließ und lässt sich die Seele und deren Verbindung zum menschlichen Leib nicht lokalisieren.
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Das Spekulative Design ist da flexibler. Aber auch anwendungsbezogene Gestaltungspraktiken greifen auf andere, mitunter narrative Werkzeuge zurück, was gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Hybridisierung von digital und analog deutlich wird: Zum einen steht das Digitale für eine weitgehende Abkehr des körperlich-materiellen, zum anderen erscheint sie – gerade in Form des „Internets der Dinge“ – als Allegorie dafür, wie sich Produkte und Umwelt heute zunehmend vernetzen. (vgl. Kaerlein 2015) Hieraus leitet sich wiederum ein gegenseitiger Veränderungsprozess ab. So stellt Stefan Wölwer fest, dass sich einerseits die Materialien dieser Produkte verändern, wenn sie mit Digitalität aufgeladen werden, sowie andererseits, etwa über haptische Schnittstellen, auch Bits und Bytes einer steten Beeinflussung unterliegen. [12] (Vgl. Wölwer, 85ff)
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Man könnte nun fragen, inwieweit das Gestalterisch-Spekulative dabei nicht Gefahr läuft, ins Anti-Faktische abzudriften (vgl. Unger-Büttner 2017). Besonders treffend betont Hartmut Böhme, dass technische Funktion und semiotische Aufladung nicht entgegengesetzt werden sollten (Böhme 2016, 25 ff.). Böhme liefert dazu einen dezenten Hinweis auf Martin Heideggers Dichotomie von Vorhandenheit und Zuhandenheit: „Wenn Störungen im geschmeidigen Nutzen der Dinge auftreten, dann wird das, je nach Einstellung, als ein agonal-widerborstiges oder auch aufmüpfiges, passiv widerständiges Verhalten der Dinge interpretiert.“ (Böhme 2016, 27)
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Womöglich können Spekulative Objekte also beides sein: Der Versuch, die Beseeltheit der Dinge und deren Verbindung zum menschlichen Leib eben doch zu lokalisieren – zumindest auf einer Erzählebene. Und somit in der gestalterischen Praxis als weltenbauendem Anwendungsbereich die dingliche Seele als Arbeitshypothese zu nehmen und gestalterisch materialisierend fortzuspinnen.
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[1] Die Überlegungen Bennetts verorten sich somit in den Kontext des Neuen Materialismus, zwischen Wissenschaftsphilosophie und Medienwissenschaften und ähnliche Versuche der Geistes- und Kulturwissenschaften, die z. B. von Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), Objektorientierter Ontologie (OOO) oder Agentiellem Realismus repräsentiert werden (vgl. Unger-Büttner 2017).
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[2] Latour definiert den Aktanten als etwas, das handelt oder dem Aktivität von anderen zugestanden wird. Ein Aktant ist weder ein Objekt noch ein Subjekt, sondern ein "Intervenierer“ (vgl. Latour 2001; Bennett 2010, 9)
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[3] Vgl. hierzu die Überlegungen von Deleuze und Guattari hinsichtlich eins materiellen Vitalismus.
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[4] „Recalcitrance of Things” (Bennett 2010, 3)
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[5] Hier zeigt sich die radikalkonstruktivistische Annahme, dass „Realität“ nicht durch persönliche Wahrnehmung abgebildet werden kann, sondern lediglich als Konstruktion individueller Sinnesreize und Erfahrung (Jede Wahrnehmung ist vollständig subjektiv).
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[6] Ein Beispiel, wie Assemblagen funktionieren, liefert Bennett anhand des großen Stromausfalls im August 2003 (USA). Das Stromnetz sei dabei als ein komplexes Geflecht aus aus Kohle, elektromagnetischen Feldern, Computerprogrammen, Profitmotiven, Lebensstilen, Wirtschaftstheorien usw. zu verstehen, welches es unmöglich erscheinen lässt, genau zu sagen, wer oder was den Stromausfall "verursacht". Die „Agency of Assemblages“ verläuft also entlang eines Kontinuums, das von mehreren Aktanten ausgeht – vom Elektronenfluss bis hin zum Kongressmitglied. (Vgl. Bennett 2010, 20 ff.)
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[7] Vgl. Bieling 2021.
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[8] In dieser Assemblage erscheinen die Objekte als Dinge, d.h. als lebendige Entitäten, die nicht einzig auf die Kontexte reduzierbar sind, in die sie von (menschlichen) Subjekten gesetzt werden, und die sich nie völlig in ihrer Semiotik erschöpfen. (Bennett 2010, 5)
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[9] Bennett 2010, 5
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[10] Vgl. Merlau-Pontys Phänomenologie.
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[12] Für Kinder im präoperationalen Stadium (zweites bis siebtes Lebensjahr) ist diese Vorstellung ganz selbstverständlich. Sie nehmen an, dass (eigentlich ja unbelebte) Dinge lebendig sind, und schreiben ihnen menschliche Eigenschaften zu (vgl. Dörrenbächer/Plüm 2016; Piaget 2015).
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[13] (Physische) Materialien sind laut Wölwer somit gerade auch im Interaction Design relevante Parameter, die es zu gestalten gilt.
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Literatur
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Bennett, Jane (2010): Vibrant Matter: A Political Ecology of Things. Duke University Press
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Bennett, Jane (2020): Lebhafte Materie: Eine politische Ökologie der Dinge. Berlin: Matthes & Seitz.
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Bieling, Tom (2021): Aesthetics of Sustainability. Buchbesprechung. In: DESIGNABILITIES Design Research Journal, (3) 2021.
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Böhme, Hartmut (2016): Agency, Performativität und Magie der Dinge. In: Dörrenbächer/Plüm: Beseelte Dinge. Bielefeld: Transcript.
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Deleuze/Guattari (1993): Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie. Merve.
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Dörrenbächer, Judith & Kerstin Plüm (Hgs.) (2016): Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus. Bielefeld: Transcript.
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Kaerlein, Timo (2015): Die Welt als Interface. Über gestenbasierte Interaktionen mit vernetzten Objekten. In: Florian Sprenger & Christoph Engemann (Hgs.): Internet der Dinge, Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt. Bielefeld: Transcript. S. 137 ff.
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Latour, Bruno (2001): Das Parlament der Dinge – Für eine politische Ökologie. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
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Piaget, Jean (2015): Das Weltbild des Kindes: Stuttgart: Klett-Cotta. (Original: 1926)
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Unger-Büttner, Manja (2017): Beseelte Dinge – selige Designer? Spiegelungen gesellschaftlicher und philosophischer Debatten in den Designwissenschaften; DESIGNABILITIES Design Research Journal, (3) 2017.
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Weltzien, Friedrich & Martin Scholz (Hgs.) (2017): Sprachen des Materials. Berlin: Reimer.
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