Speclog

17.03.22

Psychogeografische Spekulation

Und deren künstlerische Verarbeitung in „The City & The City“ von Mariam Ghani

“I have lived here in this city for 20 years. Not expecting anything to go in a different direction which I have been accustomed to. I thought this way of life was supposed to be. One group here, one group there.” („The City & The City“, RT 07:28) +
Dieses Zitat ist Teil eines Klangskripts in der Audioinstallation „The City & The City“ der US-amerikanischen Autorin, Künstlerin und Filmemacherin Mariam Ghani. Ihm wohnt eine Doppeldeutigkeit inne, mit der sich wahrscheinlich ein überwiegender Teil unserer urbanen Gesellschaft identifizieren kann: Zum einen beinhaltet es die geografischen, ökonomischen und sozialen Dynamiken einer Stadt, die unsere allgemeinen Vorstellungen und unser Tun in eben dieser Stadt beeinflussen. Zum anderen lässt es sich auch auf die ganz konkreten Routen und Straßen beziehen, denen wir tagtäglich immer wiederholend folgen, ob zur Arbeit, zum Einkaufen oder zurück nach Hause. Inwieweit werden dabei unsere Wege durch die Dynamik der Stadt gelenkt? Und glauben wir, unsere Stadt wirklich zu kennen, wenn wir ebenso handeln wie im zuvor dokumentierten Zitat? Das britische Künstlerkollektiv Wrights & Sites fordert in seinem Manifest für eine neue Kultur des Gehens diese Denk- und Verhaltensweise hinaus, indem es in einem Appell unter vielen fordert: +
„Nr. 6 Gehen: Gewohnte Gangmuster aufgeben, zum Beispiel den immergleichen Zuhause-Arbeit-Zuhause-Weg: jene blinden Bewegungen, bei denen der Kopf anderswo und ‚anderswann‘ ist. […]“ (Wrights & Sites in Lubkowitz 2020: 207) +
An dieser Stelle lässt sich eine interessante Parallele feststellen: Sowohl Ghanis Kunstwerk „The City & The City“, welches sich mit der Korrelation von “spatial and racial politics” in amerikanischen Städten auseinandersetzt, als auch das Manifest des Kollektivs Wrights & Sites, das mit Methoden der Psychogeografie britische Großstädte als unkonventionellen Perfomance Space nutzt, arbeiten mit dem Motiv der Blindheit (bei Ghani Unseeing) im urbanen Raum. Bei genauerer Betrachtung des Kunstwerks lässt sich mutmaßen, dass Ghani – ob bewusst oder unbewusst – ebenso Methoden der Psychogeografie anwendet, die ihre Arbeit in einer spekulativen Dystopie münden lassen. +
Die folgende Ausarbeitung setzt sich mit der Fragestellung auseinander, ob und mit welchen Mitteln Ghani psychogeografische Spekulation in ihrem Werk „The City & The City“ künstlerisch verarbeitet und was dadurch in der:dem Rezipient:in ausgelöst wird. Dazu wird anfangs der Begriff der Psychogeografie erläutert und das Kunstwerk im Allgemeinen vorgestellt. Im Anschluss folgt die Untersuchung der künstlerischen Umsetzung auf psychogeografische Aspekte sowie anschließend ein Vergleich mit einem eigenen Designprojekt, das sich mit der gleichen Thematik auseinandersetzt. Die Ausarbeitung endet mit der Beantwortung der Fragestellung und einer These, die sich möglicherweise als abschließender Ausblick aufstellen lässt. +

Der Begriff der Psychogeografie

Die Psychogeografie erforscht die Gesetze, Dynamiken und Auswirkungen der geografischen Umwelt und ihren direkten Einfluss auf das psychische Verhalten sowie die Emotionen von Individuen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die räumliche Umgebung bewusst gestaltet ist oder nicht. (Adamek-Schyma 2008: 413) +
Eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Psychogeografie als explorative Wissenschaft spielt dabei die Situationistische Internationale (im Folgenden SI genannt), eine revolutionäre Bewegung, die unter anderem durch den Marxismus, Dadaismus sowie Surrealismus beeinflusst wurde und sich hauptsächlich auf intellektuelle und künstlerische Milieus beschränkte. Gegründet in den 1950er Jahren in Frankreich, kritisierte die SI den Verlust von Pariser Stadtraum zum unmittelbaren (Er-)leben und die Transformation moderner Städte zu Zentren des Kapitalismus, welche das Leben der Individuen vom eigentlichen Sein entfremde und auf Produktion und Konsum reduziere (Caves 2006: 371f, Adamek-Schyma 2008: 409). +
Ein einflussreiches Gründungsmitglied der SI war Guy Debord, der mit dem dérive (französisch, eng. drift, dt. das Umherschweifen) eine der wichtigsten situationistischen Praktiken begründete. Er definiert das dérive wie folgt (Debord in Lubkowitz 2020: 35): +
„Eine oder mehrere Personen, die sich dem Umherschweifen widmen, verzichten für eine mehr oder weniger lange Zeit auf die ihnen im Allgemeinen bekannten Bewegungs- bzw. Handlungsabläufe, auf ihre Beziehungen, Arbeits- und Freizeitbeschäftigungen, um sich Anregungen des Geländes und den ihm entsprechenden Begegnungen zu überlassen. […] Vom Standpunkt des Umherschweifens aus haben die Städte ein psychogeografisches Bodenprofil mit beständigen Strömen, die den Zugang zu gewissen Zonen oder ihr Verlassen sehr mühsam machen.“ +
Ziel des Umherschweifens ist zum einen das Erforschen von Terrain, zum anderen die „emotionale Desorientierung“ (eigene Übersetzung, Website Situationist International Online[1]). Beides kann nie ganz gentrennt voneinander betrachtet werden und eröffnet dem Gehenden oftmals innerstädtische Widersprüche und neuartige Perspektiven. +
Im Bezug auf das Umherschweifen sollte auch die Erstellung von psychogeografischen Karten kurz erwähnt werden, welche ebenfalls bereits in den 1950er Jahren in Paris als eine nachbereitende Methodik der SI angewandt wurde. Psychogeografische Karten fragmentieren industrielle Stadtkarten – basierend auf individuellen Impulsen, Erfahrungen und Emotionen – und verweben diese neu, um Juxtapositionen oder neue Inhalte und Bedeutungen zum Ausdruck zu bringen. +
Guy Debord, cover of “Psychogeographic guide of Paris”
(
Farrauto, L.; Ciuccarelli, P. (2011): The image of the divided city through maps, S. 32)
+
Abschließend lässt sich die Wissenschaft der Psychogeografie aus heutiger Perspektive vielleicht folgendermaßen zusammenfassen: Als ein Erforschen und Suchen nach der „Schnittmenge zwischen Psyche und Geografie, zwischen Außen und Innen, Wahrnehmung und Erinnerung, Essenz und Akzidenz“ (Witzel in Lubkowitz 2020: 162). +

Mariam Ghanis Werk "The City & The City"

Mariam Ghanis Werke entstehen größtenteils in den Disziplinen Video, Installation, Fotografie sowie Sound und basieren alle gleichermaßen auf einem forschungsbasierten Ansatz. Sie befasst sich inhaltlich mit Orten, Räumen und Momenten, in welchen soziale, politische und kulturelle Strukturen sicht- und greifbare Formen annehmen. Ghanis selbst erklärtes Ziel ist es, zu verstehen und aufzuzeigen, wie unsere Gesellschaft in der Gegenwart sowohl die Vergangenheit rekonstruiert als auch die Zukunft neu konstruiert, indem private und öffentliche Narrative verschoben werden (Mariam Ghani Website [2]). +
„The City & The City“ ist eine interdisziplinäre Arbeit aus dem Jahr 2015, die aus einem Video (1-Kanal-HD-Video mit Stereoton, RT 28:50) und einer Klanginstallation (7-Kanal-Soundinstallation, RT 11:38) besteht, begleitet durch diverse Tintenstrahldruckfotografien. Sie entstand im Auftrag des St. Louis Art Museums und wurde dort auch uraufgeführt. Die Produktion an der Washington University in St. Louis startete kurze Zeit nach dem gewaltsamen Tod des 18-jährigen Afroamerikaners Michael Brown durch einen weißen Polizisten. Die Unruhen sowie Diskussionen über Polizeiarbeit und damit verbundene rassistische Gewalt hielten bis zur Premiere an. +
Das Video beinhaltet eine fiktionale, spekulative Erzählung in einer dystopischen Gesellschaft. Es wurde durch den gleichnamigen Science-Fiction-Noir-Roman von China Miévilles inspiriert und übernimmt dessen konzeptionellen Rahmen: Zwei Städte liegen geografisch an exakt dem gleichen Ort, sind jedoch wirtschaftlich und politisch strikt voneinander getrennt und zu völlig separierten Stadtstaaten erklärt. Aus diesem Grund lernen die Bürger:innen von Geburt an das Unseeing von Allem und Jeder:m der jeweils anderen Stadt, bis alles Fremde instinktiv völlig aus ihrem Blickfeld verschwindet. Die physischen Grenzen und Einhaltungen dieser Regeln werden von einer Macht namens Breach überwacht (Mariam Ghani 2015 „The City & The City [3]). Ein Mord bildet die Anfangsszene in Film und Roman, der Tote – metaphorisch als zerbrochener Spiegel dargestellt – spricht in der Erzählung zum Publikum, während sich die fortlaufende Handlung im Film inhaltlich rückwärts bewegt und er in seinen Erinnerungen verschiedene Orte der Stadt St. Louis besucht. Diese realen Orte werden zum spekulativen Schauplatz der entzweiten, fiktionalen Stadt und setzen so die tatsächliche Geografie von St. Louis neu zusammen (Mariam Ghani 2015 „The City & The City“[4]). +
Ghani selbst erklärt in ihrem Vortrag (Vortrag HAW Hamburg: 22.06.2021) die realen Umstände der Schauplätze hinter der Fiktion: In Ferguson, einer Stadt im St. Louis County, befindet sich eine der ältesten freien afroamerikanischen Siedlungen des Mittleren Westens. Aufgrund eines geplanten Ausbaus des Flughafens kaufte die Stadt St. Louis die Hälfte der Häuser, riss sie ab – und ließ den Flughafen unverändert. Die Demolierung jedoch breitete sich anschließend in die umliegenden Nachbarschaften aus. Nach der Premiere des Kunstwerks nahm die Geschichte eine überraschende Wende, als auch übrige Häuser beschlagnahmt und abgerissen wurden, um dort den neuen Campus der National Geospatial-Intelligence Agency (NGA) [5] zu errichten. +
Neben dem fiktionalen Film besteht das Werk „The City & The City“ aus einer Klanginstallation, welche einen Gegenpol zur spekulativen Erzählung darstellt und in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Einrichtungen und Kollektiven produziert wurde [6] . Diverse Einwohner:innen aus St. Louis unterschiedlichen Alters, ethnischer Herkunft, Geschlechts und sozialer Schichten führen hier ein offenes Klangskript durch, in welchem der Großteil der Satzanfänge vorgegeben ist (I am …, I have lived here …, My city is …, When I walk down the streets I feel …, ....) und im Anschluss durch individuelle Angaben und persönliche Geschichten vervollständigt wird (Ghani 2015, Soundinstallation). Auf diese Art entsteht ein Klangteppich, der manchmal leicht verständlich und sequenziell aufgebaut ist, sich jedoch an bestimmten Stellen zu einem undurchdringlichen Stimmenwirrwarr verschiedener Perspektiven entwickelt. Einige Passagen der Soundperformance werden auch durchgängig synchron von allen Beteiligten gesprochen, wie beispielsweise eine Sequenz zu Beginn des Skripts: +
“I would say I know it [the city]. In my own way. Different from yours. But also similar. We each inhabit our own cities within cities. Sometimes they are overlapped, but not always.” (RT 01:54 – 02:03) +
Gegen Ende der ca. 12-minütigen Klanginstallation häufen sich die synchron gesprochenen Sätze der verschiedenen Sprecher:innen. Insbesondere die recht eindringliche Schlusspassage wäre hier nochmal zu erwähnen: +
“This is my city and your city. They are not the same city and they are the same city. Each city contains multitudes. […] The city that could be or could happen or could have been. The city that we all belong.” (RT 11:02 – 11:38) +
Die gesamte Soundperformance wird dabei über sieben Lautsprecher verschiedenster Größen, Optik und Klangqualität abgespielt, welche alle aus unterschiedlichen Second-Hand-Läden in St. Lous stammen. +
Beide Komponenten, Video und Klanginstallation, ergeben im Gesamtkunstwerk eine Symbiose, die eine Brücke zwischen spekulativer Fiktion und der Realität schlägt. Ziel der Arbeit „The City & The City“ ist es nach Ghanis Aussage, “the incredible tight in American cities between spatial and racial politics” aufzuzeigen und greifbar zu machen. +

Ghanis Mittel der künstlerischen Verarbeitung

Ghani wendet – bewusst oder unbewusst – inhaltliche Metaphern und angewandte Methoden an, die deutliche Parallelen zu psychogeografischen Werken und Schriften schlagen. Das Motiv des Unseeing (der Blindheit), welches bereits im Vorwort im Bezug auf das Manifest für eine neue Kultur des Gehens erwähnt wurde, stellt dabei nur ein Beispiel dar. +
Das wohl deutlichste und wichtigste Motiv ist das der Überlagerung. Ghani beschreibt es in ihrem Vortrag auf inhaltlicher Ebene mit folgender Metapher: +
“St. Louis is like an onion, where you peel one layer of injustice and another one just like appears underneath it and then another and then another and another.” (Vortrag Ghani 2021, 18:22:33) +
Die Assoziation der Zwiebel mit einer Großstadt als Metapher für deren Vielschichtigkeit und die zahllosen Überlagerungen diverser Zeiten, Geschichten und Perspektiven scheint sehr greifbar und naheliegend. Ähnliche Gedanken lassen sich zum Beispiel auch bei Garnette Cadogan finden, einem in New York lebenden Schriftsteller und Journalisten, dessen Essays in mehreren psychogeografischen Anthologien und Magazinen erschienen sind. Er beschreibt die Großstadt als „archäologische Ausgrabungsstätte“ (New York – die Welt vor deinen Füßen 2020), die unerschöpflich viele Schichten einzelner Geschichten unter sich trage. Um zu sehen, was sich wirklich hinter dem ersten Blick in eine Straße verberge, müsse man nur anfangen, zu fragen. +
Ein für die Gestaltung ausschlaggebender Aspekt ist, dass Ghani ihr inhaltliches Motiv ebenfalls in die künstlerische Umsetzung überträgt. Im Film arbeitet sie in diversen Sequenzen mit visuellen Überlagerungen von Videoschichten. Verschieden geografisch gelegene Orte werden neu verwebt, wachsen zusammen, erzeugen eine fragmentierte, flimmernde Collage, lösen sich wieder auf. Hier ein Beispiel einer zusammenhängenden Sequenz: +
Screenshot „The City & The City“ HD-Video (RT 05:44)
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Screenshot „The City & The City“ HD-Video (RT 06:13)
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Screenshot „The City & The City“ HD-Video (RT 06:37)
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Ghani visualisiert auf diese Weise den Prozess des Seeings und Unseeings sowie die Widersprüchlichkeit der entzweiten Stadt, die geografisch doch eins ist. +
Die Überlagerung findet nicht auf visuelle, sondern auditive Weise ebenso Verwendung im zweiten Part des Kunstwerks, der Soundperformance. Hier lässt Ghani sich zeitweise alle Stimmen der Sprecher:innen überlagern, sodass es dem Publikum nicht mehr möglich ist, alle Aussagen, Perspektiven und eigene Wahrheiten der Beteiligten wahrzunehmen – sondern nur ganz partiell. Ein nennenswertes Beispiel hierfür ist die Passage „My city is […]“ (RT 02:22), welche unter anderem überlappend mit folgenden Beschreibungen vervollständigt wird: a fragmented place, a piece of art, a warzone, a broken engine, a joke, a collection of various lives, in transition, a box, a cute monster, a nice place, a battlefield. +
Ghani schafft hier durch das gleiche künstlerische Mittel ein Statement etlicher, teilweise völlig konträrer Wahrheiten und Perspektiven der einzelnen Bewohner:innen in Bezug auf ihre Stadt und ihre persönlichen Erfahrungen dort. +
Eine interessante Parallele in der methodischen Vorgehensweise psychogeografischer Praktiken und der künstlerischen Umsetzung Ghanis zeigt sich bei erneuter Betrachtung des dérive nach Guy Debord. Wir, das Publikum, durchlaufen passiv diese Praktik, indem wir Ghani im filmischen Part von „The City & The City“ an die unterschiedlichen Orte der Stadt folgen, die zuerst vielleicht zusammenhangslos erscheinen, aber doch einer gewissen Intuition folgen und somit die „Ströme eines psychogeografischen Bodenprofils“ sichtbar machen. +
Eine wesentliche Analogie findet sich auch in der Absicht dieser Methode: die emotionale Desorientierung stellt für Debord eines der Ziele des Umherschweifens dar. Eine – unter anderem emotionale – Desorientierung wird ebenfalls beim Publikum von „The City & The City“ durch das Mittel der Überlagerung ausgelöst. Während im Video eher eine optische Desorientierung durch die fragmentierten, flimmernden Collagen entsteht, die es der:dem Betrachter:in zwischenzeitlich nicht mehr möglich machen, sich in der Stadt geografisch zu orientieren, nimmt die Desorientierung in der Soundperfomance emotionalere Züge an, da die zum Teil sehr bestürzenden Antworten tatsächlicher Einwohner:innen von St. Louis nicht mehr gleichzeitig verarbeitet werden können und möglicherweise auch dazu anregen, die eigene soziale Rolle zu hinterfragen. +
An dieser Stelle könnte man sogar noch einen Schritt weitergehen und die These aufstellen, dass Ghani – insbesondere in Bezug auf den filmischen Part ihrer Arbeit – eine psychogeografische Karte als mentales Konstrukt erstellt. Auch wenn das Kunstwerk selbst keine kartografischen Elemente beinhaltet, so findet doch eine Fragmentierung und anschließend neue Zusammensetzung geografischer und spekulativer Schauplätze statt, welche die ständige Gleichzeitigkeit und die ebenso herrschende Trennung zwischen “spatial and racialsowie erlebter Fiktion und Realität verdeutlicht. +

Vergleich mit eigener experimenteller Reihe "Endstation"

Im Bereich der künstlerischen Konzeption fing ich vor einigen Wochen an, mich unter der Leitung von Prof. Ellen Sturm-Loeding der Thematik der Psychogeografie zu widmen. Um mir einen eigenen Erfahrungswert über die bloße Wissensvermittlung hinaus zu schaffen und gewonnene Impulse reflektieren zu können, platzierte ich mich – in der vorherigen Annahme, ich würde die Stadt Hamburg bereits recht gut kennen – in unbekannten Vierteln selbst und betrieb dort intuitiv die Praktik des dérive. Für die geografische Platzierung war folgende Systematik ausschlaggebend: An der von mir regulär genutzten S-Bahn-Haltestelle nahm ich die erste einfahrende Bahn und fuhr mit dieser bis zur Endstation. Dieses Experiment wurde drei Mal durchgeführt und fand seine jeweiligen Ausgangspunkte an den Haltestellen Harburg Rathaus, Wedel und Elbgaustraße. Für die nachträgliche Aufbereitung sowie Verarbeitung gesammelter Impressionen, Gedanken und Erlebnisse orientierte ich mich ebenfalls an einem Appell aus dem Manifest für eine Kultur des Gehens des Kollektivs Wrights & Sites: +
„Nr. 7 Jeder kann überall zum Geher-Architekten werden – es reicht, einfach Atmosphären und Gefühle zu kartografieren – sie sind unser Fundament, denn wir bauen von Emotionen und Ideen weiter nach außen.“ (Wrights & Sites in Lubkowitz 2020: 214) +
Unter diesem Ansatz entstanden drei Plakate der drei Umgebungen, in denen folgende Aspekte grafisch und fixiert wurden: (1) Atmosphäre in vorherrschenden Farben und (2) zurückgelegte Route in der Erinnerung, verglichen mit tatsächlicher Route. Beim zweiten und dritten dérive verwendete ich zusätzlich eine Kamera, um eindringliche Impressionen oder Begegnungen mit Personen zu dokumentieren (3). Zusätzlich wurde zu jeder Umgebung ein kurzer Essay angefertigt mit chronologisch sortierten Fragen, ausgelöst durch spontane Impulse, sowie zugehöriger, nachträglich recherchierter Antworten. +
(1) +
(von links nach rechts: Harburg Rathaus, Wedel, Elbgaustraße)
+
(1 + 2) +
(von links nach rechts: Harburg Rathaus, Wedel, Elbgaustraße)
+
(3) +
(Auszug aus Fotomaterial, Umgebung Wedel)
+
(Auszug aus Fotomaterial, Umgebung Elbgaustraße)
+
Diese Praxis war mein erster Schritt, zu lernen, in der urbanen Geografie Parallelen und Widersprüche zu lesen und eine Vorstellung von den „Strömen des psychogeografischen Bodenprofils“ der Stadt Hamburg zu erlangen. Desorientierung als Ziel der Methodik habe ich dabei sowohl auf geografische, aber auch emotionale Weise erlebt, insbesondere durch Begegnungen mit Bewohner:innen, die mir oftmals durch mein eigenes Unseeing verborgen bleiben. +
Natürlich lassen sich diese beiden Arbeiten nur bedingt vergleichen. Während Ghani bereits durch Literatur inspiriert sowie mit Hintergrundwissen ausgestattet ist und in einem deutlich größeren und von Beginn an kritischeren soziogeografischen Kontext eine Auftragsarbeit erstellt, habe ich mich erstmal aus völlig subjektiver und nichtwissender Perspektive als Fremdkörper irgendwo in der Stadt platziert. +
Ein interessanter Aspekt jedoch ist der Vergleich des Stilmittels der künstlerischen Umsetzung. Denn während Ghani hier hauptsächlich – wie bereits beschrieben – mit dem Mittel der Überlagerung arbeitet, habe ich völlig intuitiv eine Gegenüberstellung in der grafischen Abbildung verwendet. Es lässt sich nur mutmaßen, dass Ghani mir an dieser Stelle einen Schritt voraus ist: Denn während sie sich schon länger mit der Thematik sowie der “tight between spatial and racialbeschäftigt und diese in Form von Desorientierung dem Publikum greifbar macht, habe ich anfangs erstmal versucht, meine ganz persönliche Desorientierung wieder zu ordnen und die verschiedenen Gesichter, Perspektiven und Juxtapositionen der Stadt klar nebeneinanderzustellen. +

Fazit

Für das eigene Ziel ihrer Arbeit machte sich Ghani, die auch nach längerer Recherche meinerseits erstaunlicherweise nicht einmal mit dem Begriff der Psychogeografie in Verbindung gebracht wurde, ihre Beobachtung zunutze, dass “the tight between spatial and racialzwar nicht immer in Geschichtsbüchern niedergeschrieben, aber stets in die Landschaften eingezeichnet wird (Vortrag Ghani 18:22:59). Aufgrund dieser Beobachtung wendet sie schließlich – bewusst oder unbewusst – diverse psychogeografisch genutzte Motive und Praktiken an, die dazu führen, dass „The City & The City“ insgesamt als Kunstwerk mit deutlichen Bezügen zur Psychogeografie eingeordnet werden kann: Während im Film eine spekulative, psychogeografische Dystopie geschaffen wird, entspricht die Soundperfomance als Gegenpol eher dem künstlerisch umgesetzten Ergebnis einer reellen, psychogeografischen Untersuchung – der Kategorie, in die ich auch meine eigene Arbeit einordne. +
Dieses individuelle Experiment hat es mir ermöglicht, mit voller Überzeugung und insbesondere untermauert durch persönliche Erfahrung Ghanis These zu stützen: +
“There is no Sci-Fi mechanism for the separation between the two cities that are co- inhabiting this space, everyone is just doing it to themselves [unsee the others]. They just learn not to see each other […] and that is actually a very true life in many cities.” (Vortrag Ghani: 18:24:18) +
Diese These gilt nach eigener Ansicht weit über US-amerikanische Städte hinaus und ebenso für die Stadt Hamburg. Auch wenn die künstlerische Umsetzung in ihren Stilmitteln von Überlagerung und Gegenüberstellung in Ghanis und meiner Arbeit konträr verläuft, so schafft sie nach eigener These doch am Ende die gleiche Konsequenz: nämlich die Entwicklung von Empathie, welche auf geografische und insbesondere emotionale Desorientierung folgt. +
Diese Empathie stellt möglicherweise den Gegenpol zur anfänglich beschriebenen Blindheit, dem Unseeing, dar, und steht uns als Gesellschaft offen, wenn wir es schaffen, mit der Blindheit selbst zu brechen. Einige Psychogeograf:innen, so scheint es, haben dieses Ziel zum Teil schon bereits vor einigen Jahrzehnten erkannt und etablierten die angewandte Psychogeografie erstmals als spekulative Forschung. Diese bietet uns als Designer:innen und Künstler:innen heute ein breites Spektrum an Wissen, Inspiration und Methodik, welche sich hervorragend auf einen gestalterischen Kontext übertragen lassen. Wenn wir dieses Angebot in unseren produktiven, experimentellen Möglichkeiten zu verarbeiten und dem Publikum zugänglich zu machen wissen, birgt sich also in der psychogeografischen Spekulation ein großes Potenzial für angewandtes Design. +
Und im Bezug darauf lässt sich hier abschließend noch einmal erneut ein weiterer Appell aus dem Manifest für eine neue Kultur des Gehens zitieren, der wahrscheinlich nicht nur in Ghanis Werk eine gänzlich vollkommene Anwendung findet: +
„Nr. 5 Gehen: Wissen, das jeder Gegenstand, dass alle Gegenstände, Gefühle und Ungereimtheiten, jede Erscheinung und das Aufeinanderprallen parallel verlaufender Linien potenzielles Material für ein Kunstwerk sind.“ (Wrights & Sites in Lubkowitz 2020: 215) +
Kira Pawlewski +
. +
[1] https://www.cddc.vt.edu/sionline/index.html. +
[2] https://www.mariamghani.com/about +
[3] https://www.mariamghani.com/work/364. +
[4] https://www.mariamghani.com/work/364. +
[5] NGA: die zentrale US-Behörde für militärische, geheimdienstliche und kommerzielle kartografische Auswertungen und Aufklärung. +
[6] Pink House in Pagedale, Community CollabARTive at Red Chair on Cherokee Street, NORC and Covenant House in Creve Coeur, Saint Louis Story Stitchers Artist Collective: North Side Workshop (Sound engineering Adam Hogan). +

Quellenverzeichnis

Adamek-Schyma, B. (2008): Psychogeographie heute: Kunst, Raum, Revolution?
In: ACME: An International Journal for Critical Geopgrahies. 7(3). S. 407-432. +
Caves, R.W. (2005): Encyclopedia of the city. Routledge. +
Debord, G. (1956): Theory of Derive. Les Levres Nues. 9. Nachgedruckt in Internationale Situationniste. Übersetzung von Ken Knabb. (Situationist International Online: https://www.cddc.vt.edu/sionline/si/theory.html, abgerufen am 29.07.2021). +
Debord, G.: Theorie des Umherschweifens. In Ohrt, R. (1995): Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Hamburg: Nautilus. S. 64-67. +
Farrauto, L.; Ciuccarelli, P. (2011): The Image of the Divided City Through Maps:
the Territory without Territory. Politecnico di Milano. Indaco Department. +
Ghani, M. (2015): The City & The City. https://www.mariamghani.com/work/364. (abgerufen am 29.07.202) +
Ghani, M. (2015): The City & The City. 28:50 min. 1-channel HD-Video. USA. +
Ghani, M. (2015): The City & The City. 11:38 min. 7-channel sound installation. USA. +
Ghani, M. (2021): Vortrag vom 22.06.2021. HAW Hamburg. Seminar: Potentials
of Speculation
. Script. +
Lubkowitz, A. [Hrg.] (2020): Psychogeografie. Eine Anthologie. Berlin:
Matthes & Seitz. +
Workman, J. (2018): The World Before Your Feet. 96 min. Greenwich Entertainment. Happy Entertainment. USA. (erschienen 2020 in Deutschland unter dem Titel: New York – Die Welt vor deinen Füßen). +